Forderungen des Deutschen Behindertenrates (DBR) zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen 2016
Die im Deutschen Behindertenrat zusammenarbeitenden Verbände verstehen die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) als Richtschnur ihres Handelns. Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Einschätzung der Verbände noch weit davon entfernt, die Vorgaben der UN-BRK zu erfüllen, weil die Menschenrechte behinderter Menschen immer noch und immer wieder unter einen Kostenvorbehalt gestellt werden. Leider hat sich daran in der ablaufenden Legislaturperiode wenig geändert,
- obwohl der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Regierung 2015 nach der ersten deutschen Staatenprüfung mit den abschließenden Bemerkungen eindeutige Empfehlungen mitgegeben hat;
- obwohl die Große Koalition verschiedene Gesetzesinitiativen im Behindertenbereich gestartet hat.
Zum Ende eines behindertenpolitisch bewegten Jahres präsentiert der Deutsche Behindertenrat heute seine zentralen Anliegen in Form von 11 Forderungen.
Berlin, 30. November 2016
Sprecherrat und Arbeitsausschuss des Deutschen Behindertenrates Hinweis: Am Fuß dieser Seite können Sie das gesamte Forderungspapier als PDF herunterladen.
Menschenrecht auf Barrierefreiheit umsetzen! Barrierefreiheit ist eine wesentliche Voraussetzung, damit alle Menschen gleichberechtigt am Leben teilhaben können. Doch im Alltag stoßen Menschen mit Behinderungen auf viele Barrieren: beim Bahnfahren, am Geldautomaten, im Internet, im Sportverein, beim Einkaufen, beim Arztbesuch und vieles mehr.
Der Weg, allein auf freiwillige Zielvereinbarungen zu setzen, war erfolglos, wie die Erfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt haben. Das 2016 neugefasste Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet lediglich die Bundesverwaltung und die Sozialleistungsträger, Standards zur Barrierefreiheit einzuhalten bzw. einzuführen.
Nach Artikel 9 der UN-BRK hat Deutschland sicherzustellen, dass "private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen". Auch der zu Art. 9 erlassene General Comment des UN-Fachausschusses vom 22. Mai 2014 (CRPD/C/GC/2) lehnt hinsichtlich der Verpflichtungen zur Barrierefreiheit einen Unterschied zwischen Privaten und öffentlichen Anbietern von Gütern und Dienstleistungen unmissverständlich ab.
- Dass Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) muss novelliert werden. Es müssen darin klare gesetzliche Regelungen geschaffen werden, die auch private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen, die für die Öffentlichkeit bereitgestellt werden, zur Barrierefreiheit verpflichten, und zwar im Hinblick auf Zugänglichkeit und Nutzbarkeit. Die Versagung von angemessenen Vorkehrungen ist als Diskriminierung zu definieren. Darüber hinaus sollen die Rechte aus dem AGG nicht nur von Einzelnen, sondern im Wege der Verbandsklage auch von Antidiskriminierungsverbänden eingeklagt werden können.
- Ergänzend zu nationalen Regelungen müssen Fortschritte auf europäischer Ebene erreicht werden. Dafür muss Deutschland Schrittmacher bei den Verhandlungen für eine EU-weit gültige Richtlinie zu barrierefreien Gütern und Dienstleistungen – dem seit Dezember 2015 im Entwurf vorliegenden European Accessibility Act (EAA) werden. Dabei ist die Expertise des DBR frühzeitig und engmaschig einzubinden.
- Barrierefreiheit muss eine Vorgabe sein für öffentliche und private Auftraggeber im Rahmen des Vergaberechts in allen öffentlichen Ausschreibungen für Güter und Dienstleistungen, die zur Nutzung natürlicher Personen bestimmt sind. Dazu müssen die Möglichkeiten des Vergaberechts genutzt werden. Ziel muss sein, dass Barrierefreiheit, verpflichtender Bestandteil der Leistungsbeschreibungen von Ausschreibungen wird und auch zu den Vergabe- bzw. Zuschlagskriterien gehört.
- Es fehlt an der generellen Umsetzung der Barrierefreiheit sowie an einem bundeseinheitlichen Notruf- und Katastrophenwarnsystem für hörgeschädigte Menschen. Durch die Erweiterungen des bisherigen Notrufsystems hin zum Notruf 2.0 und der damit im Zusammenhang stehenden dynamischen technischen Entwicklungen müssen dringend notwendige Änderungen des § 108 TKG und der Notrufverordnung vorgenommen werden.
- Der DBR begrüßt die Wiedereinführung der Zuschussförderung im KfW-Programm "Altersgerecht Umbauen". Allerdings reichen die Mittel bei weitem nicht aus. Bereits Mitte des Jahres waren die Mittel aus dem Bundeshaushalt in Höhe von 49 Millionen Euro für 2016 aufgebraucht. Der DBR fordert daher, das Programm aufzustocken und schrittweise zu erhöhen.
- Die Bundesregierung hat am 20. Juni 2014 den Vertrag von Marrakesch, den internationalen Vertrag der Welturheberrechtsorganisation (WIPO), unterzeichnet, der Ausnahmen zugunsten blinder, seh- und lesebehinderter Menschen im Bereich des Urheberrechts zulässt, um für diesen Personenkreis zugängliche Formate herzustellen und zu verbreiten. Die Bundesregierung wird aufgefordert, den Marrakesch-Vertrag zeitnah zu ratifizieren und das Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) im Sinne dieses Vertrages zu ändern. Von über 95 Prozent der veröffentlichten literarischen Werke weltweit sind blinde, seh- und lesebehinderte Menschen aktuell ausgeschlossen, weil die Literatur nicht in zugänglichen Formaten, wie etwa Brailleschrift, Daisy-Audio-CDs, barrierefreie elektronische Formate, Großdruck etc. zur Verfügung steht. Die damit verbundenen Einschränkungen in den Bereichen Freizeit, Bildung und Teilhabe am politischen Meinungsbildungsprozess müssen abgestellt werden.
- Zur Herstellung von Barrierefreiheit im Bahnverkehr muss die Bundesrepublik ihrer Verpflichtung nach einer EU-Verordnung nachkommen und unter Beteiligung der Verbände behinderter Menschen einen nationalen Umsetzungsplan mit konkreten Maßnahmen, Fristen, Zeitplänen und Strategien über 10 Jahre vorlegen. Der nationale Umsetzungsplan soll überdies Kompensationsregelungen enthalten für nicht vollständig barrierefreie Bahnhöfe oder Fälle, in denen zu bestimmten Uhrzeiten keine Ein- oder Ausstiegshilfen zur Verfügung stehen, weil kein Personal vor Ort ist. Darüber hinaus muss das vom Bundesverkehrsministerium aufgelegte Modernisierungsprogramm zum barrierefreien Umbau von kleinen Bahnhöfen (weniger als 1000 Reisende am Tag) verstetigt und aufgestockt werden.
Bundesteilhabegesetz umfassend nachbessern! Die Verbände des DBR hatten große Erwartungen an das Bundesteilhabegesetz (BTHG). Es sollte als zentrales behindertenpolitisches Projekt die menschenrechtlichen Ziele der UN-BRK umsetzen und insoweit die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen mit Nachdruck verbessern. Gemessen an diesen Maßstäben erreicht das BTHG die Zielsetzungen, für die die Verbände des DBR lange und intensiv politisch gearbeitet hatten, nicht.
Zentrale Forderungen des DBR bestehen daher fort. Maßgeblich bleiben für den DBR dabei die "Sechs gemeinsamen Kernforderungen zum Bundesteilhabegesetz", die er im April 2016 zusammen mit den Fachverbänden für Menschen mit Behinderungen, dem Paritätischen Gesamtverband, dem Deutschen Roten Kreuz, dem Deutschen Gewerkschaftsbund sowie der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung aufgestellt hat und die bisher von über 150 Einzelorganisationen mit unterzeichnet worden sind. Aufbauend auf diesen sechs Kernforderungen erhebt der DBR folgende Forderungen zum BTHG:
- Menschen mit Behinderungen brauchen ein umfassendes Wunsch- und Wahlrecht, um ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Das Recht, in einer eigenen Wohnung, ggf. mit Unterstützung, zu leben, darf nicht aus Kostengründen in Frage gestellt werden. Dies gilt auch für Menschen mit schweren Behinderungen.
- Eingliederungshilfe soll behinderungsbedingte Nachteile ausgleichen. Daher hält der DBR an seiner Forderung fest, diese Leistungen einkommens- und vermögensunabhängig zu gewähren. Hierfür muss der Gesetzgeber weitere Schritte der Verbesserung zeitnah auf den Weg bringen.
- Der DBR stellt sich Leistungskürzungen und -einschränkungen entschieden entgegen. Dies gilt für gesetzliche Regelungen ebenso wie für die Umsetzung des Rechts in der Praxis. Der Reha- und Befähigungsansatz der Eingliederungshilfe muss erhalten und in der Praxis verwirklicht werden. Einschränkungen beim leistungsberechtigten Personenkreis durch eine Zugangsregelung darf es weder im Recht noch in der Praxis geben.
- Der DBR setzt sich seit langem für ein Verfahrensrecht ein, das Leistungen zügig, abgestimmt und wie aus einer Hand für Betroffene ermöglicht und nicht hinter erreichte SGB IX-Gesetzesstandards zurückfällt. Er hat Sorge, dass das neugeschaffene, komplexe Verfahrensrecht im SGB IX diese Erwartungen nicht erfüllt. Eine enge Umsetzungsbegleitung und Evaluierung der Neuerungen ist unerlässlich und Fehlentwicklungen ist zügig entgegenzutreten.
- Menschen mit Behinderungen brauchen mehr Teilhabe- und Wahlmöglichkeiten im Arbeitsleben. Es ist engmaschig zu beobachten, ob die neugeschaffenen Instrumente des Budgets für Arbeit und der anderen Anbieter tatsächlich Übergänge aus der Werkstatt unterstützen und qualitativ gute Alternativen für die Menschen mit Behinderungen schaffen.
- Der DBR fordert, die Rechte der Menschen mit Behinderungen auch nicht indirekt, z. B. über schlechte finanzielle und vertragliche Rahmenbedingungen für Anbieter, zu beschneiden. Auch behinderte Menschen in Einrichtungen haben ein Recht auf qualitativ hochwertige Unterstützungsangebote. Dies darf durch das BTHG und seine Umsetzung nicht in Frage gestellt werden.
Schutz vor Diskriminierung gewährleisten! Menschen mit Behinderungen erleben nach wie vor eine Vielzahl von Diskriminierungen in ihrem Alltag. Rund ein Viertel aller Anfragen bei der Antidiskriminierungsstelle (ADS) des Bundes betreffen erlebte Diskriminierung aufgrund von Behinderungen. Das sind mehr Anfragen als in jedem anderen Bereich. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat in einer von der ADS beauftragten Umfrage Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung gefragt, wo sie sich benachteiligt fühlen. 26 Prozent nannten darauf die Fortbewegung im Alltag, 24 Prozent das Berufsleben und 23 Prozent Versicherungstarife und -prämien. 22 Prozent sahen sich bei der Freizeitgestaltung benachteiligt oder ausgegrenzt, 17 Prozent auf Ämtern oder bei Behörden. Um behinderten Menschen ein möglichst diskriminierungsfreies Leben gleichberechtigt mit anderen zu ermöglichen, wie es die UN-BRK vorschreibt, fordert der DBR die Bundesregierung zu folgenden Maßnahmen auf:
- Der DBR fordert eine umfassende Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Darin muss die Versagung angemessener Vorkehrungen, d. h. die Verweigerung von zumutbaren Barrierefrei-Anpassungen im Einzelfall, als Diskriminierung definiert werden. Dies muss auch für die Privatwirtschaft gelten. Zur wirksamen Durchsetzung der Schutzrechte ist ein Verbandsklagerecht im AGG zu verankern.
- Die seit 2008 diskutierte 5. Gleichbehandlungsrichtlinie der EU, die u. a. den Diskriminierungsschutz wegen Behinderung für die Bereiche Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, Bildung sowie beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen vorsieht, muss endlich verabschiedet werden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, ihre Blockadehaltung gegen diese Richtlinie aufzugeben und die Verabschiedung der Richtlinie im Interesse behinderter Menschen zu ermöglichen.
Kinder- und Jugendhilfe inklusiv ausrichten! Ein Leistungsangebot für behinderte Kinder und Jugendliche, das sich primär an der Lebenslage "Kindheit und Jugend" orientiert, entspricht dem Inklusionsgedanken der UN-BRK und ist lange überfällig. Bislang gewährt das SGB VIII jedoch nur Kindern mit seelischen Behinderungen Unterstützungsleistungen, während Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen Leistungen nach SGB XII erhalten. Der DBR betont: Alle jungen Menschen sind zunächst einmal Kinder oder Jugendliche und haben erst in zweiter Linie eine Einschränkung. Der DBR fordert daher insbesondere:
- Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände sowie die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe sind an den Vorarbeiten zur Gesetzreform umfassend zu beteiligen.
- Alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe müssen inklusiv ausgestaltet werden.
- Bei einer Verlagerung in die Kinder- und Jugendhilfe müssen alle Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII/BTHG im SGB VIII übernommen werden. Es darf in keinem Fall zu einer Leistungsverschlechterung für Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung kommen. Dies gilt auch für die Einbeziehung von Kindern mit drohender Behinderung.
- Die Eingliederungshilfeleistungen bei einer Neuregelung im SGB VIII müssen mindestens im bisher gewährten Umfang und der bisherigen Qualität erhalten bleiben. Hierfür ist es unbedingt erforderlich, die für die Leistungsgewährung nach dem SGB VIII zuständige Ebene finanziell entsprechend auszustatten.
- Es darf keine Ausweitung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung der Eltern behinderter Kinder insgesamt erfolgen. Die besondere Situation einer oft lebenslangen Verantwortung von Eltern mit behinderten Kindern gebietet es, finanzielle Mehrbelastungen unbedingt zu verhindern. Bei der notwendigen Neuregelung der Kostenheranziehungsvorschriften ist ferner auf eine bundeseinheitliche und transparente Regelung zu achten.
- Die Bedarfsermittlung, Leistungs- bzw. Hilfeplanung müssen inklusiv ausgestaltet sein, also regelhaft und unter Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern in einer, auch für Kinder und Eltern mit Beeinträchtigung geeigneten Art und Weise.
- Für den Übergang zum Erwachsenenleben und damit zu den Leistungen der Eingliederungshilfe sind Übergangsregelungen zu schaffen, die einen an den Erfordernissen des Einzelfalls orientierten Übergang vom System der Kinder- und Jugendhilfe in das System der Sozialhilfe erlauben.
- Auf der kommunalen Ebene ist ein Beteiligungsmanagement einzuführen, in welches die Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände eingebunden werden, um die Entwicklung der Strukturen und der Leistungserbringung mit zu gestalten.
Teilhabe am Arbeitsleben verbessern! Menschen mit Behinderungen stoßen im Arbeitsleben auf viele Vorurteile und Barrieren. Die gesetzliche Beschäftigungsquote von 5 Prozent wird bei privaten Arbeitgebern nur mit 4,1 Prozent erfüllt. Von 153.000 beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern haben 2014 in Deutschland über 39.000 Arbeitgeber keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigt. Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen lag in 2014 bei 13,9 Prozent und damit fast doppelt so hoch wie die vergleichbare allgemeine Arbeitslosenquote von 8,6 Prozent. Auch bei verbesserter konjunktureller Lage ist die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen in den letzten Jahren kaum gesunken. Der Arbeitsmarkt ist und bleibt Menschen mit Behinderung schwer zugänglich.
- Vor diesem Hintergrund darf die Bundesregierung sich nicht länger auf Appelle an den "guten Willen" der Arbeitgeber beschränken, sondern muss die Beschäftigungspflicht endlich konsequent einfordern und durchsetzen.
- Der DBR fordert daher eine erhöhte Ausgleichsabgabe für die Betriebe, die ihrer Beschäftigungspflicht gar nicht oder in unzureichendem Maße nachkommen.
- Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) muss gestärkt und mehr Verbindlichkeit erreicht werden. Im SGB IX ist daher ein individueller Rechtsanspruch für Beschäftigte auf die Durchführung des BEM einzuführen. Die Verweigerung des Arbeitgebers, ein beschäftigungssicherndes BEM durchzuführen, muss grundsätzlich zur Unwirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung führen.
- Obwohl die Schwerbehindertenvertretung (SBV) bei allen Personalmaßnahmen, die schwerbehinderte Menschen betreffen, durch den Arbeitgeber beteiligt werden muss, ist dies in der Praxis oftmals nicht der Fall. Der DBR betont das Erfordernis, dass Entscheidungen des Arbeitgebers, die schwerbehinderte Menschen betreffen und ohne die gesetzlich vorgeschriebene Information und Anhörung der SBV getroffen wurden, nichtig sein sollten.
- Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf dürfen nicht wegen Art und Schwere der Behinderung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, einschließlich beruflicher Bildung, ausgeschlossen werden. Dieses Recht darf sich nicht auf Leistungen der Werkstatt beschränken.
Rechtsanspruch auf inklusive Bildung umsetzen! Seit 2009 haben behinderte Kinder in Deutschland ein "Recht auf Regelschule", theoretisch ist mittlerweile die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen möglich. Doch in den meisten Ländern gibt es weitreichende Einschränkungen.
In vielen Bundesländern können die Schulen die Aufnahme behinderter Kinder verweigern, ob-wohl der Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung an einer allgemeinen Schule nach der UN-BRK zwingend zu gewährleisten ist.
Zwar steigt die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen, aber die Zahl der Kinder, die in Sonderschulen separiert werden, bleibt konstant. Am Förderschulsystem wird mit Verweis auf das Elternwahlrecht festgehalten ohne jedoch zu berücksichtigen, dass die unterschiedliche Ausstattung dazu führt, dass Eltern z. T. immer noch die Förderschulen bevorzugen. Wenn die Bedingungen an der Regelschule für ein behindertes Kind kaum akzeptabel sind, dann haben die Eltern faktisch kein Wahlrecht. }
- Der DBR fordert daher, so wie auch der UN-Fachausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen zum Staatenbericht, eine verbindliche Gesamtstrategie zur inklusiven Bildung. Diese muss Zeitpläne, Umsetzungskonzepte, finanziell unterstützende Ressourcen, überprüfbare Ziele und Qualitätskriterien enthalten. Hier stehen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam in der Pflicht.
- Das strikte Kooperationsverbot im Bildungsbereich muss zugunsten der Inklusion aufgehoben werden, damit der Bund seiner Pflicht zur Unterstützung inklusiver Bildungsangebote, gerade auch im Schulbereich, endlich nachkommen kann.
- Es muss eine gesetzlich verankerte Pflicht des Staates geben, im Einzelfall die personellen, räumlichen oder sächlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit behinderte Schülerinnen und Schüler eine Regelschule besuchen können. Eine entsprechende Vorschrift gibt es bislang in keinem Bundesland.
- Das Thema "Behinderung" sollte im Bildungsalltag selbstverständlich werden. Hierzu gehören u. a. die Berücksichtigung in Schulbüchern, Angebote zum Erlernen der Gebärdensprache und die Einbeziehung von Behindertenverbänden in Bildungsangebote vor Ort.
Wahlrechtsausschlüsse abschaffen! Knapp 85.000 Menschen mit Behinderungen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet wurde sowie Menschen, die sich aufgrund einer Anordnung nach dem Strafgesetzbuch in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden, sind in Deutschland noch immer vom Wahlrecht ausgeschlossen.
Die Wahlrechtsausschlüsse nach § 13 Nr. 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes verletzen das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben, wie es in Art. 29 BRK garantiert wird. Die vom BMAS in Auftrag gegebene Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderung zeigt nicht nur eine erschreckend hohe Zahl von Menschen, denen die Ausübung ihres Grund- und Menschenrechts verwehrt wird, sondern auch eine nicht nachvollziehbare unterschiedliche regionale Verteilung bei den Wahlrechtsausschlüssen. Dies ist nicht länger hinnehmbar. Der DBR fordert daher:
- Die menschenrechtswidrigen Wahlrechtsausschlüsse zulasten behinderter Menschen sind umgehend aus den Wahlgesetzen der EU, des Bundes und der Länder ersatzlos zu streichen.
- Es müssen Möglichkeiten der Wahlassistenz unter der Berücksichtigung der freien Wahlentscheidung der wahlberechtigten Person entwickelt werden. Dazu gehört auch die Möglichkeit, dass Menschen mit Behinderung auf eigenen Wunsch und bei Bedarf die Unterstützung bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer Wahl in Anspruch nehmen können. Der Rechtsanspruch auf solche Wahlassistenzleistungen ist in gesetzlich zu verankern.
Umfassende Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen schaffen! Es ist belegt, dass Frauen mit Behinderungen in Deutschland im Laufe ihres Lebens etwa zwei bis drei Mal häufiger sowohl sexualisierte als auch körperliche Gewalt erleben als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hatte Deutschland in den Abschließenden Bemerkungen Nr. 36 aufgefordert, vor dem nächsten Staatenbericht "eine umfassende, wirksame und mit angemessenen Finanzmitteln ausgestattete Strategie aufzustellen, um in allen öffentlichen und privaten Umfeldern den wirksamen Gewaltschutz für Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu gewährleisten".
Die Bundesregierung hat dem UN-Ausschuss im Frühjahr 2016 als Gesamtstrategie insbesondere die Förderung des bundesweiten Hilfetelefons sowie eine Reihe von Projekten vorgelegt.
Diese Maßnahmen sind gut und wichtig, reichen für eine wirkliche Gesamtstrategie jedoch nicht aus. Beispielhaft sei hier benannt, dass in Deutschland ein breites Hilfesystem, bestehend aus speziellen Fachberatungsstellen für Frauen und Frauenhäusern besteht, um Frauen, die Gewalt erlebt haben, zu helfen. Allerdings ist dieses Hilfesystem nicht barrierefrei – lediglich etwa 10 Prozent des Angebots sind umfassend barrierefrei.
Der DBR fordert die Entwicklung einer wirklichen Gesamtstrategie zum Gewaltschutz für Frauen und Mädchen mit Behinderungen gemäß Artikel 16 der UN-BRK. Zu der Gesamtstrategie zählen insbesondere:
- eine Bund-Länder-Finanzierung zur Schaffung von Barrierefreiheit bestehender Frauenhäuser und Frauenfachberatungsstellen,
- das Recht auf Wahl der Pflege- und Assistenzperson,
- verpflichtende Konzeptionen zum Schutz vor und den Umgang mit Gewalt in allen Einrichtungen der Behindertenhilfe,
- umfassende, flächendeckende Präventionsmaßnahmen zum Schutz vor Gewalt für Mädchen und Frauen mit Behinderungen (z. B. Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurse, Empowerment-Kurse) sowie
- die Sensibilisierung aller Berufsgruppen, die Berührung mit Mädchen und Frauen mit Behinderung haben, über die hohe Gewaltbetroffenheit und die Lebensbedingungen und Strukturen, die Gewalt begünstigen bzw. hervorrufen.
Bezahlbaren und barrierefreien Wohnraum schaffen! Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, wo und wie er leben möchte. Diese Vorgabe der UN-BRK ist in Deutschland nicht im Ansatz erfüllt. Der Mangel an barrierefreiem Wohnraum und einem entsprechenden Wohnumfeld ist gerade für Menschen mit Behinderungen immens. Die vorhandenen Fördermittel sind völlig unzureichend. Der DBR fordert daher:
- Es muss deutlich mehr bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit Behinderungen geschaffen werden. Die Mittel, die der Bund den Ländern als Ausgleich für den Wegfall früherer Finanzhilfen für die soziale Wohnraumförderung zahlt, müssen erhöht und die Länder verpflichtet werden, diese Mittel zweckgebunden für den barrierefreien und -reduzierenden Um- und Neubau sowie neue Sozialbindungen zu verwenden. Vertreterinnen und Vertreter von Menschen mit Behinderungen sind rechtzeitig zu beteiligen.
- Der Bund unterstützt die Herstellung nachhaltiger städtebaulicher Strukturen mit Finanzhilfen. Diese ergänzen Mittel der Länder und Kommunen. Barrierefreiheit und -reduzierung müssen Bedingungen für alle weiteren Förderungen des Bundes werden, insbesondere für die Städtebauförderung. Vertreterinnen und Vertreter von Menschen mit Behinderungen sind rechtzeitig zu beteiligen.
- Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass die Bundesländer nicht unter dem Druck einer erhöhten Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum die gängigen Bauvorschriften zur Barrierefreiheit unterlaufen. Menschen mit Behinderungen haben bereits heute große Probleme, geeigneten und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Vor dem Hintergrund, dass man bei Wohngebäuden von einer "Lebensdauer" von 80 Jahren ausgeht, muss jetzt barrierefrei gebaut werden.
Gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen verbessern! Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen und chronischer Erkrankung steht nach wie vor nicht im Einklang mit Artikel 25 der UN-BRK. Hiernach sind die Vertragsstaaten zur Gewährleistung eines erreichbaren Höchstmaßes an Gesundheit ohne Diskriminierung von Behinderung verpflichtet. Dabei sind alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben.
Diese Vorgabe ist nach wie vor noch nicht erreicht. Patientenrechte müssen weiterentwickelt werden, um die Position von Patientinnen und Patienten zu stärken. Das Nachsehen haben hier vor allem Menschen mit Behinderungen und chronischer Erkrankung, die dauerhaft und in besonders hohem Maße auf medizinische Leistungen angewiesen sind. Vor allem sind sie durch Zuzahlungen und Eigenleistungen besonders stark finanziell benachteiligt. Das betrifft Medikamente ebenso wie erforderliche Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie Heil- und Hilfsmittel, die nicht oder nur eingeschränkt als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung oder eines anderen Trägers zur Verfügung stehen. Oft müssen die Betroffenen diese aus eigener Tasche bezahlen oder – weil ihnen das nicht möglich ist – auf diese ganz verzichten.
- Der DBR fordert, dass Menschen mit Behinderungen und chronischer Erkrankung alle erforderlichen medizinischen Leistungen ohne eigene Kostenbeteiligung zur Verfügung gestellt werden.
- Die Hilfsmittelversorgung muss künftig im Lichte der UN-BRK auf die volle Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ausgerichtet sein. Hilfsmittel dürfen nicht länger auf den reinen Behinderungsausgleich beschränkt sein. Zu- und Aufzahlungen müssen ausgeschlossen werden.
- Die freie Arztwahl muss auch für Menschen mit Behinderung die Regel sein. Oft bestehen ganz erhebliche bauliche, kommunikationsbezogene oder einstellungsbedingte Barrieren, die die gesundheitliche Versorgung behinderter Menschen erheblich nachteilig betreffen. Arztpraxen und sonstige Einrichtungen im Gesundheitsbereich sind endlich konsequent barrierefrei auszugestalten, notfalls mit staatlicher Unterstützung sowie mit Sanktionsdruck im Falle der fortgesetzten Weigerung der Betreiber.
- Das Thema Behinderung muss endlich systematisch in die Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe integriert und Barrierefreiheit zur Zulassungsvoraussetzung von Praxen werden. Die Patientinnen und Patienten sind umfassend über das Behandlungsgeschehen zu informieren und in die ärztlichen wie therapeutischen Entscheidungsprozesse aktiv einzubinden. Patientenrechte müssen weiterentwickelt werden hin zu einer echten Stärkung der Position der Patienteninnen und Patienten gegenüber Arzt und Krankenkasse. Medizinische Leistungen müssen einen konkreten Nachweis des Patientennutzens beinhalten, die Arzneimittelversorgung muss so transparent gestaltet werden, dass erkennbar ist, welche Medikamente zur Verfügung stehen und erstattet werden.
- Menschen mit Behinderung haben häufig Bedarf an Begleitung bei stationären Krankenhausaufenthalten. Zurzeit haben nur Menschen mit Behinderung, die Assistenzpflegekräfte im Arbeitgebermodell beschäftigen, eine Berechtigung durch Pflegeassistenten in das Krankenhaus begleitet zu werden, § 11 Abs. 3 SGB V. Der DBR fordert, dass allen Menschen mit Behinderung und Unterstützungsbedarf ermöglicht wird, ihre bewährte Unterstützung bei einem stationären Krankenhaus-, Vorsorge- oder Rehabilitationsaufenthalt mitzunehmen. Die Unterstützungsleistung durch professionelle Assistenzkräfte muss finanziert werden.
Volle Teilhabe auch für Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete mit Behinderungen gewährleisten! Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete mit Behinderungen gehören zu den besonders vulnerablen Gruppen. Schätzungen zufolge haben 10 bis 15 Prozent der in Deutschland befindlichen Asylsuchenden eine Behinderung oder chronische Erkrankung. Hinzu kommen zahlreiche durch Kriegs- und Fluchterlebnisse traumatisierte Menschen, die dringend psychologische Hilfe benötigen. Es ist ernüchternd, dass es die Verantwortlichen bis heute immer noch nicht geschafft haben, halbwegs verlässliche Zahlen über die Größenordnung der Betroffenen zu ermitteln.
So hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen nach dem Staatenprüfungsverfahren von Deutschland 2015 in seinen abschließenden Bemerkungen speziell Programme zum Schutz vor Diskriminierung für Migrantinnen und weibliche Geflüchtete mit Behinderungen angemahnt. Des Weiteren wurde der Bundesregierung empfohlen, ein besonderes Augenmerk auf Kinder mit Behinderungen zu haben, deren Eltern Zuwanderer oder Geflüchtete sind. Außerdem hat der Ausschuss die Bundesregierung nachdrücklich aufgefordert, Konzepte und Programme für Bevölkerungsteile mit Migrationsgeschichte Menschen mit Behinderungen uneingeschränkt zugänglich zu machen. Weiterhin wurde die Barrierefreiheit von Gesundheitsdiensten für Geflüchtete gefordert.
- Der DBR fordert die Bundesregierung auf, den Vorgaben des UN-Fachausschusses nachzukommen und entsprechende Programme zum Schutz vor Diskriminierung zu entwickeln.
- Der in § 100 des SGB IX-Entwurfs geplante Leistungsausschluss für Bezieher von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz darf nicht in Kraft treten bzw. ist zu streichen. Eine Differenzierung der Teilhaberechte nach Nationalität oder aufenthaltsrechtlichem Status ist mit der Umsetzung von Menschenrechten nicht vereinbar.
- Die seit 2013 in Deutschland geltende EU-Aufnahmerichtlinie ist insbesondere bezüglich "besonders schutzbedürftiger" Geflüchteter und Asylsuchender in nationales Recht umzusetzen. Zu dieser Gruppe gehören unter anderem Menschen, die in ihren Herkunftsländern Opfer von schwerer Gewalt, von Folter oder anderen Menschenrechtsverletzungen geworden sind, aber auch alle Geflüchteten, die mit schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen leben. Der in der Richtlinie festgeschriebene Anspruch besonders schutzbedürftiger Asylsuchender, als solche identifiziert und medizinisch sowie psychosozial versorgt zu werden, muss endlich realisiert werden.
- Der DBR fordert, ein umfassendes Beratungsangebot in den Muttersprachen der in Deutschland befindlichen Flüchtlingen und Asylbewerber zu etablieren und zur Verfügung zu stellen. Über die Beratungsangebote ist bereits in den Erstaufnahmestellen und Unterkünften zu informieren. Das fremdsprachige Beratungsangebot muss sich im Übrigen auch an diejenigen Personen richten, die als anerkannte Asylsuchende bzw. mit Duldungsstatus oder als Deutsche mit Migrationshintergrund über keine hinreichenden Deutschkenntnisse verfügen, um ihre sozialrechtlichen Ansprüche auf Krankenhandlung und Teilhabeleistungen hinreichend geltend zu machen.
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