Forderungspapier des Deutschen Behindertenrats zur Barrierefreiheit der flexiblen Mobilitätsangebote bei der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG)

Vorbemerkung

Derzeit steht die Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) an. Sie muss Barrierefreiheit nicht nur in den Bereichen Bus und Bahn sowie im Taxiverkehr gewährleisten, sondern auch sicherstellen, dass neue Mobilitätsangebote (flexible, bedarfsgesteuerte Bedienformen), insbesondere die sogenannten On-Demand-Verkehre (Verkehre auf Abruf oder auf Bestellung), zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. In einer älter werdenden Gesellschaft sind die barrierefreie Mobilität und der barrierefreier Verkehr von zentraler Bedeutung. Hier braucht es gesetzliche Rahmenvorgaben und eine konsequente Umsetzung in der Praxis. Unabhängig von der Trägerschaft, gleich ob in kommunaler oder privatwirtschaftlicher Hand, gleich ob sie als Ridesharing, Ridehailing oder Ridepooling benannt werden, muss Barrierefreiheit für alle neuen Verkehrsangebote gelten. Barrierefreiheit stellt bislang noch keine verpflichtende Vorgabe dar.

Sollte Barrierefreiheit bei den neuen Verkehrsangeboten in Zukunft nicht garantiert werden, wäre dies ein klarer Verstoß gegen die UN Behindertenrechtkonvention, u. a. gegen Artikel 9 (Zugänglichkeit), Artikel 19 (unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in der Gemeinschaft) und Artikel 20 (persönliche Mobilität). Zudem werden durch eine nicht barrierefrei gestaltete Mobilität erneut Sondersysteme (Fahrdienste etc.) und den Ausschluss vieler (mobilitätsbeeinträchtigter und älterer Menschen) verstärkt. Der ungehinderte Zugang zum ÖPNV ist ab 2022 vorgeschrieben und muss demnach auch für diese neuen – in der Erprobung befindlichen Verkehrsangebote gelten.

1. Einordnung der On-Demand-Verkehre als Teil des ÖPNV

On-Demand-Verkehrsangebote sind zwischen dem traditionellem Linienverkehr und Individual- und Gelegenheitsverkehr angesiedelt und schließen hier die Angebotslücke. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) brachte Anfang 2019 ein Eckpunktepapier heraus, das die wichtigsten Punkte zur zukünftigen Mobilität zusammenfasst. Ausgehend von diesem Eckpunktepapier sollen On-Demand-Verkehrsangebote als Sonderform des Linienverkehrs deklariert werden (gem. § 43 PBefG) und den klassischen Linienverkehr nach § 42 PBefG ersetzen, ergänzen oder verdichten.

§ 43 Sonderformen des Linienverkehrs

Als Linienverkehr gilt, unabhängig davon, wer den Ablauf der Fahrten bestimmt, auch der Verkehr, der unter Ausschluß anderer Fahrgäste der regelmäßigen Beförderung […] dient.

Mit dem Referenzrahmen des Linienverkehrs greift § 8 Abs. 1 und 2 PBefG (Förderung der Verkehrsbedienung und Ausgleich der Verkehrsinteressen im öffentlichen Personennahverkehr).

(1) Öffentlicher Personennahverkehr im Sinne dieses Gesetzes ist die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen im Linienverkehr, die überwiegend dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr zu befriedigen.

(2) Öffentlicher Personennahverkehr ist auch der Verkehr mit Taxen oder Mietwagen, der eine der in Absatz 1 genannten Verkehrsarten ersetzt, ergänzt oder verdichtet.

Demnach zählen On-Demand-Verkehrsangebote faktisch zum ÖPNV. Auch ergänzen und verdichten sie hiermit die bestehenden Verkehrsarten des Linienverkehrs. Es ist daher unabdingbar, dass On-Demand-Verkehre als Teil des ÖPNV verstanden und gesetzlich ausgelegt werden. Somit müssen auch die Anbieter von On –Demand-Verkehren den Regularien, die für den ÖPNV hinsichtlich der Barrierefreiheit gelten, unterliegen. Durch den Passus 'ersetzen, ergänzen oder verdichten' muss Barrierefreiheit in der Bandbreite der zukünftigen facettenreichen und neuen bedarfsgerechten Mobilitätsleistungen und -konzepte gelten und müssen ebenso in den Nahverkehrsplänen erfasst sein.

2. Barrierefreiheit bei der Genehmigungspflicht als verpflichtendes Kriterium

Die in § 2 PBefG geregelte Genehmigungspflicht muss ebenfalls für die On-Demand-Verkehrsangebote gelten. Diese müssen eine Genehmigung haben, die gleichzeitig an das Kriterium der Barrierefreiheit gebunden ist. Im Sinne des PBefG gilt es dem öffentlichen Verkehrsinteresse bzw. den Anforderungen aller (potentiellen) Fahrgäste an die Nutzbarkeit und Zuverlässigkeit des gesamten Beförderungssystems Rechnung zu tragen. So muss das Kriterium der Barrierefreiheit bereits bei der Genehmigungspflicht aufgenommen werden.
3. Nahverkehrspläne (NVP) nutzen! Aufnahme der neuen Mobilitätsangebote in den NVP
Die neuen Mobilitätsangebote gehören nach Auffassung des Deutschen Behindertenrats auch in den Rahmen von Nahverkehrsplänen, in denen eindeutige Qualitätsstandards wie der der Barrierefreiheit definiert sind.

In § 8 Abs.3 S. 2 PBefG heißt es: Der Aufgabenträger definiert dazu die Anforderungen an Umfang und Qualität des Verkehrsangebotes, dessen Umweltqualität sowie die Vorgaben für die verkehrsmittelübergreifende Integration der Verkehrsleistungen in der Regel in einem Nahverkehrsplan. Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. […] Bei der Aufstellung des Nahverkehrsplans sind die vorhandenen Unternehmer frühzeitig zu beteiligen; soweit vorhanden sind Behindertenbeauftragte oder Behindertenbeiräte, Verbände der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Fahrgäste und Fahrgastverbände anzuhören.

Gleichzeitig findet sich hier die politische Zielbestimmung – die Maßgabe 2022. Die Aufgabenträger sind verpflichtet, in Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, bis 2022 die Barrierefreiheit im gesamten ÖPNV zu gewährleisten. Auch hier können (aber dann begründete) andere Fristen als 2022 unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen Bedingungen und finanziellen Mitteln vorgesehen werden. Der Nahverkehrsplan (NVP) stellt ein geeignetes und bislang dafür noch wenig genutztes Instrument dar. Hiermit ist es möglich, darauf hinzuwirken, dass Barrierefreiheit bei den neuen Verkehrsformen durch das PBefG verpflichtend Berücksichtigung findet. Darüber hinaus stehen bei der Aufstellung von Nahverkehrsplänen die Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen in der Pflicht, mitzuwirken.

4. Barrierefreie On-Demand-Verkehre sowohl in Ballungs- als auch in ländlichen Räumen

Die neuen Mobilitätsangebote, insofern diese barrierefrei auffindbar, zugänglich und nutzbar sind, eignen sich im besonderen Maße, die Beförderung z. B. von Tür zu Tür zu garantieren und dies mit hoher Verfügbarkeit praktisch rund um die Uhr und gerade auch in ländlichen Regionen, in denen der herkömmliche ÖPNV mehr und mehr verschwindet. Insbesondere hier sind Angebote in ihrer Verfügbarkeit nur sehr begrenzt sind bis gar nicht vorhanden sind. Strukturschwache Gegenden sind durch ihre mangelnde und rückläufige infrastrukturelle Grundausstattung bzw. einer mangelnden Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von wichtigen Einrichtungen gekennzeichnet. Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungen sind nur vereinzelt bis gar nicht vorhanden. Verkehrs- / Wegestrecken, die nicht hinreichend barrierefrei sind, wirken sich nachteilig auf die individuelle Mobilität aus. Der Linien- und Busverkehr ist stark begrenzt (z.B. ein bis zwei Mal am Tag, oder einmal in einer Stunde) und z.T. am Schülerverkehr gekoppelt. Nicht alle Personen verfügen (oder nicht mehr) über die Ressourcen eines eigenen PKWs oder andere Mitfahrgelegenheiten durch Angehörige, Bekannte o.ä.. Falls vorhanden, ist auch der örtliche Bahnhof nicht immer barrierefrei. Ebenso sind nicht alle Bürgerbusse, die bereits ländliche Räume erschließen und zeitliche Lücken schließen, barrierefrei. Bekannt ist auch, dass die Mehrzahl der eingesetzten Taxis und Mietwagen nicht barrierefrei ist und Fahrgäste, die im Rollstuhl sitzend befördert werden müssen, vollständig ausschließt. Damit bleibt dem Personenkreis der Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung dieses individuelle Beförderungsangebot mit dem Vorteil der Tür-zu-Tür-Beförderung verschlossen. All diese Probleme führen letztlich dazu, dass die Teilhabe- und Mobilitätschancen dieser Personengruppen deutlich eingeschränkt sind und bleiben. Aus diesem Grund bieten die neuen Verkehrsangebote eine große Chance, den ÖPNV vor allem im ländlichen Raum zu stärken und gar sicherzustellen. Barrierefreie On-Demand-Verkehrsangebote muss es in Ballungs- und in ländlichen Regionen geben.

5. Barrierefreie Anforderungen an On-Demand-Verkehrsangebote

Es müssen ausreichend barrierefreie Fahrzeuge zur Verfügung stehen, die z. B. auch Rollstuhlfahrer im Rollstuhl sitzend nutzen können.
Das Buchen und Bezahlen über das Internet oder über mobile Anwendungen (Apps.) muss nach Maßgabe von § 12a ff. des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) und der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) barrierefrei möglich sein. Bezüglich der einzuhaltenden technischen Standards ist insbesondere auf die EN 301 549 zu verweisen. Die Regelung zur digitalen Fahrtenvermittlung muss um das Kriterium der Barrierefreiheit nach der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung (BITV) 2.0 ergänzt werden.
Es ist sicherzustellen, dass sowohl analog (über Anzeigen und Ansagen), als auch digital über eine App barrierefrei erkenntlich ist, wann der Ein- und Ausstiegshalt erreicht wird.

Auch müssen Alternativen zur App zur Verfügung stehen, z. B. das übliche Telefon für die Buchung oder herkömmliche Zahlungsmöglichkeiten. Elektronische Bezahlsysteme mit zum Einsatz kommenden Kartenlesegerät müssen für Menschen mit Behinderungen barrierefrei nutzbar sein."
Die sogenannten 'virtuellen' Haltestellen müssen für alle Personengruppen erschließbar und zugänglich sein. 'Virtuelle' Haltestellen werden jetzt schon von einigen On-Demand-Verkehrsdienstleister ausprobiert und angefahren (z.T. an Straßenkreuzungen), da die Tür-zu-Tür Beförderung aufgrund der Hausnummersuche zu lange dauert. 'Virtuelle 'Haltestellen zeichnen sich im Vergleich zu analogen, realen – offiziell markierten Haltestellen dadurch aus, dass sie ohne Fahrpläne, Haltestellensymbol und ohne Sitzmöglichkeiten ausgestattet sind. Von daher sind sie keineswegs als solche erkennbar und können demnach auch nicht ohne weiteres aufgefunden werden. Sie verfügen somit über keine angemessene Ausstattung, kein einheitliches Design und sind nicht für alle bedarfsgerecht.

6. Diskriminierungsfreie Beförderung

Durch eine Beförderungspflicht für on-demand-Angebote ist sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Angebote diskriminierungsfrei in Anspruch nehmen können. Dabei muss auch gewährleistet werden, dass sie nicht aufgrund ihrer Behinderung bei der Entgeltgestaltung benachteiligt werden, weil z. B. eine besondere Unterstützungsleistung beim Ein-/Ausstieg erforderlich ist.

7. Eine über den ÖPNV hinausgehende Daseinsvorsorge

Das Regionalisierungsgesetz (1993) definiert die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Dies wird in den Nahverkehrsgesetzen der Länder weiter konkretisiert. Als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge muss die Personenbeförderung verschiedenen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Anforderungen gerecht werden. Dazu zählt letztlich auch die barrierefreie Ausgestaltung. Mit einem modernen Personenbeförderungsrecht und den damit verbundenen Möglichkeiten für eine zumindest teilweise Verschmelzung des öffentlichen mit dem Individualverkehr ist zwingend eine Neujustierung der Daseinsvorsorge erforderlich. Die Daseinsvorsorge darf sich nicht länger mehr nur auf den klassischen öffentlichen Personenverkehr mit Linienverkehr beschränken.

Berlin, den 11.3.2020

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