Das europäische Barrierefreiheitsgesetz, der European Accessibility Act – EAA (RL [EU] 2019/882), legt Anforderungen an die Barrierefreiheit für bestimmte Produkte und Dienstleistungen fest. Das betrifft u. a. die Zugänglichkeit zu Geldautomaten und Bankdienstleistungen, die Nutzbarkeit von E-Books, Computern, Unterhaltungselektronik, den Onlinehandel oder die Nutzung der einheitlichen europäischen Notrufnummer 112. Die europarechtlichen Vorgaben sind bis zum 28.06.2022 in deutsches Recht umzusetzen.
Barrierefreiheit ist für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zentral. Die bestehenden Barrieren sind gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie bei der Sicherstellung des alltäglichen Lebens besonders deutlich geworden, insbesondere bei der Teilhabe an digitaler Bildung, Arbeit, sozialem Leben und der Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse, wie z. B. beim Einkauf.
Die im DBR organisierten Verbände erwarten daher, dass Deutschland die Teilhaberechte behinderter Menschen bei der Umsetzung des EAA in den Mittelpunkt stellt und ein ambitioniertes Umsetzungsgesetz verabschiedet. Der Zugang zu Produkten und Dienstleistungen der öffentlichen Hand und privater Anbieter ist ein Menschenrecht. Eine Pflicht zum Handeln ergibt sich nicht nur aus dem EAA, sondern auch aus der von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Hinzuweisen ist dabei auf Art. 9 Abs. 2 lit. b) UN-BRK. Hiernach hat Deutschland sicherzustellen, dass "private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen;". Folgerichtig macht auch der zu Art. 9 erlassene General Comment des UN-Fachausschusses vom 22.05.2014 (CRPD/C/GC/2) hinsichtlich der Verpflichtungen zur Barrierefreiheit keinen Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Anbietern von Gütern und Dienstleistungen.
Wird diese Verpflichtung nicht ernsthaft durch die Implementierung entsprechender gesetzlicher Vorgaben umgesetzt, ignoriert Deutschland damit weiterhin klar die abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses vom 17.04.2015 (CRPD/C/DEU(CO/1), welche in Nr. 21 und 22 für Deutschland unmissverständlich bindende Verpflichtungen für private Unternehmen zur Barrierefreiheit fordern.
Für den Umsetzungsprozess erwartet der Deutsche Behindertenrat eine frühzeitige und kontinuierliche Einbindung behinderter Menschen über die sie vertretenden Organisationen.
Die Forderungen des DBR im Einzelnen:
1. Deutschland muss die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen zum Maßstab der Umsetzung des EAA machen! Eine 1:1-Umsetzung ist zu wenig.
Die Vorgaben im EAA dienen nicht nur der Wirtschaft zum Abbau von Handelshemmnissen, sondern vor allem dazu, die Verfügbarkeit barrierefreier Produkte und Dienstleistungen zu verbessern (vgl. Erwägungsgrund 1) und damit auch der Umsetzung der BRK (vgl. Erwägungsgrund 14).
- Der Gesetzgeber muss bei der Umsetzung des EAA sicherstellen, dass behinderte Menschen und Menschen mit funktionellen Einschränkungen endlich gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Produkten und Dienstleistungen privater und öffentlicher Anbieter erhalten wie Menschen ohne Beeinträchtigungen.
- Deutschland muss von allen durch den EAA eröffneten Spielräumen Gebrauch machen, um die Rechte behinderter Menschen zu stärken.
- Der DBR erwartet, dass die Bundesländer verbindliche Anforderungen an die Barrierefreiheit der baulichen Umwelt, die die im Geltungsbereich des EAA enthaltenen Produkte und Dienste umgibt, festlegen. Relevante technische Normen sind entsprechend anzupassen. Nur so wird etwa sichergestellt, dass der barrierefreie Geldautomat auch von behinderten Menschen auffindbar und stufenlos erreichbar ist. Fehlen solche Anforderungen, läuft der EAA ins Leere.
- Im Wege einer großzügigen, im Sinne der Menschen mit Behinderungen erfolgenden Interpretation der europäischen Vorgaben sind in das Umsetzungsgesetz auch solche Bereiche einzubeziehen, die vom EAA nicht ausdrücklich erfasst sind, z. B. der beruflich genutzte Computer, das Geschäftskonto und alle geschäftlich genutzten Bankdienstleistungen. Diese wichtigen Bereiche auszuklammern, würde zu nicht nachvollziehbaren Regelungslücken, zum Ausschluss von Teilhabe und zu Unsicherheiten bei der Wirtschaft führen, die nicht vermittelbar wären.
- Deutschland muss durch präzise und eng gefasste gesetzliche Regeln gewährleisten, dass sich Wirtschaftsakteure auf die im EAA vorgesehenen Ausnahmen nur in klar definierten Fällen und nur im Umfang des absolut Notwendigen berufen können. Dazu gehören strenge Anforderungen an die Begründung sowie strenge Kontrollen.
- Deutschland muss die Vorschriften des EAA so schnell wie möglich anwenden. Von den im EAA eröffneten Möglichkeiten einer Verzögerung der Umsetzung durch zusätzliche, teils jahrzehntelange Übergangsfristen, darf der Gesetzgeber keinesfalls Gebrauch machen.
2. Barrierefreiheit braucht einheitliche und der Teilhabe verpflichtete technische Standards!
Viele Regelungen des EAA werden durch technische Spezifikationen, z. B. Normen oder delegierte Rechtsakte, konkretisiert. Barrierefreiheit wird sich in der Praxis nur durchsetzen, wenn Wirtschaftsakteure auf einheitliche und allgemein gültige Standards zurückgreifen können.
- Deutschland muss sich auf europäischer Ebene dafür stark machen, dass für alle durch Europarecht geregelten Barrierefreiheitsbestimmungen einheitliche europäische technische Standards gelten.
- Die Definition der technischen Standards muss der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verpflichtet sein und die rechtlichen Vorgaben im EAA großzügig interpretieren.
- Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass der bereits für die EU-Webseitenrichtlinie harmonisierte Standard EN 301 549 im digitalen Bereich auch für die Zwecke des EAA genutzt und weiterentwickelt wird.
- Menschen mit Behinderungen müssen effektive Möglichkeiten erhalten, über die sie vertretenden Organisationen auf die Festlegung der technischen Spezifikationen Einfluss zu nehmen. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel müssen bereitgestellt und der Auf- und Ausbau der fachlichen Kompetenzen gefördert werden.
3. Wirksamer Verbraucherschutz ist essenziell!
Der EAA sieht nicht vor, dass der Staat vor dem Inverkehrbringen von Produkten oder Dienstleistungen prüft, ob diese tatsächlich barrierefrei sind. Er überprüft auch nicht generell, ob sich ein Anbieter im Einzelfall zu Recht darauf beruft, ausnahmsweise keine oder keine vollständige Barrierefreiheit herzustellen. Vielmehr schätzen sich die Wirtschaftsakteure im Rahmen einer Konformitätsbewertung selbst ein. Verbraucherinnen und Verbraucher sind in dieser Situation strukturell unterlegen. Wie barrierefrei E-Books, Bankdienstleistungen, Selbstbedienungsterminals, der Onlinehandel etc. künftig tatsächlich sind, wird also maßgeblich davon abhängen, wie effektiv der Verbraucherschutz funktioniert und wie wirksam die Sanktionen bei Nichtbefolgen der Regeln ausgestaltet werden.
- Das von den Wirtschaftsakteuren vorzunehmende Konformitätsbewertungsverfahren für Produkte muss durch verpflichtend einzubeziehende staatlich benannte und überwachte Prüfstellen begleitet und kontrolliert werden. Das Konzept der Prüfstellen hat sich bereits im Bereich der Produktsicherheit etabliert und kann Vorbild für den Bereich der Barrierefreiheit sein, gerade weil es mit dem Inkrafttreten des EAA erstmals verbindliche Anforderungen an die Barrierefreiheit für die Privatwirtschaft gibt.
- Bei der Erarbeitung und Weiterentwicklung von Konformitätsanforderungen an Dienstleistungen sind Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen einzubeziehen.
- Um eine Entscheidung über die Nutzung von Produkten und Dienstleistungen treffen zu können, müssen Verbraucherinnen und Verbraucher leicht zugänglich transparente Informationen darüber erhalten, ob und inwieweit Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet sind.
- Die staatliche Marktüberwachung muss zentral und für Produkte und Dienstleistungen aus einer Hand organisiert werden und mit effizienten Handlungsmöglichkeiten für eine systematische Kontrolle und Überwachung ausgestattet sein. Die finanziellen und personellen Ressourcen hierfür sind bereit zu stellen.
- Die mit der Marktüberwachung verbundene Kommunikation, insbesondere bei Veröffentlichungen über nicht barrierefreie Produkte und Dienstleistungen und im Rahmen des Rückrufmanagements, hat barrierefrei zu erfolgen.
- Menschen mit Behinderungen sind in den Marktüberwachungsprozess über die sie vertretenden Organisationen einzubeziehen.
- Es müssen effektive Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten geschaffen werden. Das schließt neben dem Individualrechtsschutz vor Gericht Schlichtungsverfahren als niedrigschwellige Konfliktlösungsmöglichkeit ebenso ein, wie die Schaffung eines kollektiven Rechtsschutzes mittels Verbands- und Musterfeststellungsklagen. Entsprechende Vorschriften sind gesetzlich zu verankern. Organisationen behinderter Menschen muss eine Klagebefugnis insoweit gesetzlich eingeräumt werden.
- Verstöße gegen die Verpflichtungen zur Barrierefreiheit müssen für die Wirtschaftsakteure – wie im EAA vorgesehen – wirksame und abschreckende Sanktionen nach sich ziehen. Insbesondere sind Schadenersatz- und Entschädigungsleistungen vorzusehen; daneben sind auch entsprechende Straf- und Bußgeldvorschriften zu erlassen.
4. Barrierefreiheit fördern!
Damit Barrierefreiheit auch praktisch zur Realität wird, sind begleitende Maßnahmen dringend erforderlich. Barrierefreie On-Demand-Verkehrsangebote muss es in Ballungs- und in ländlichen Regionen geben.
- Das Thema Barrierefreiheit ist in die Ausbildungs- und Studienpläne, Prüfungsordnungen, Weiterbildungsprogramme und Schulungsmodule aller Berufssparten einschließlich der Weiterqualifizierung verpflichtend aufzunehmen.
- Es ist ein Förderprogramm aufzulegen, um Unternehmen dabei zu unterstützen, Barrierefreiheit voranzubringen. Davon sollten unbedingt auch Kleinstunternehmen profitieren, die von den Verpflichtungen des EAA weitgehend ausgenommen sind, für alltäglich benötigte Produkte und Dienstleistungen aber eine enorme Bedeutung haben. Zudem können begleitende Förderprogramme verhindern, dass sich Wirtschaftsakteure auf eine unverhältnismäßige Belastung berufen.
- Wissenschaftliche Begleitforschung sollte gefördert werden, um fördernde und hemmende Faktoren für mehr Barrierefreiheit zu identifizieren. So können Strategien und Programme entwickelt werden, um Barrierefreiheit nachhaltig zu implementieren.
- Es sollte ein "Barrierefreiheits-Siegel" eingeführt und gefördert werden. Einerseits kann dieses Label zu mehr Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher beitragen, die allein über das CE-Kennzeichen keine ausreichende Informationsgrundlage erhalten. Andererseits kann so Barrierefreiheit insgesamt gestärkt werden, weil sich auch Kleinstunternehmen, die vom EAA ausgenommen sind, beteiligen und einen Beitrag für mehr gleichberechtigte Teilhabe leisten können.
Forderungspapier des Deutschen Behindertenrats (DBR) zur Umsetzung des European Accessibility Acts (EAA) in Deutschland (151 KB) |