13.2.2007 -
Sehr geehrte Frau Evers-Meyer, lieber Adolf, lieber Kevan, sehr geehrte Damen und Herren,
ein Neujahrsempfang bietet neben den guten Wünschen für das neue Jahr immer auch die Gelegenheit, der Einladenden einige programmatische Erwartungen mit auf den Weg zu geben. Sie Frau Evers-Meyer sind nun in die Fußstapfen von Herrn Haack getreten, haben aber schon sehr schnell Ihre eigenen Duftmarken gesetzt und ihre Positionen markiert. Auf unserem Visionen-Kongress von ISL im letzten Jahr in Bremen haben Sie insbesondere die Bildungspolitik mit einer gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder zu Ihrer Herzensangelegenheit erklärt.
Nach dem wir mit Herrn Haack zunächst einige Sträuße ausgefochten hatten, bevor wir dann sehr gut mit ihm zusammengearbeitet haben, löste die Botschaft, dass die Funktion nun von einer Verteidigungexpertin übernommen werden soll, zunächst erstauntes Raunen bei uns aus: Werden wir nun zum Strammstehen aufgefordert oder werden uns die Botschaften der Behindertenbeauftragten nun beim morgentlichen Apell mitgeteilt?
Zumindest war mir klar, dass die strategischen Botschaften eines Clauwitz auch in der Behindertenpolitik von Nutzen sein können, wo man sich auch manchmal defensiv in die Büsche schlagen muss, um dann überraschend zum Angriff überzugehen. Unsere Rechte aus einer strategischen Unterlegenheitsposition zu verteidigen, ist unser tägliches Geschäft. Ohne strategisches Vorgehen können unsere Positionen im politischen Alltag sehr schnell untergehen.
Wie eine innovatische Behindertenpolitik in einem Bundesland zu einer rückständigen und restriktiven Politik werden kann, habe ich in meinem Bundesland Bremen erlebt. Wenn kommerzielle Trägerinteressen eine Allianz mit einer staatlichen Kürzungspolitik eingehen, wird, statt innovative ambulante Strukturen aufzubauen, nur ein Heim neben das andere gesetzt.
Wenn die Gleichstellung und Teilhabe behinderter Menschen nur als bürokratische und unnötige Aufblähung der Verwaltung angesehen wird, werden Benachteiligungen und Barrieren nicht wirklich abgebaut, sondern neue soziale Ausgrenzung produziert und teure Nachrüstungen erforderlich.
Wenn eine integrative Bildungspolitik nur zaghaft angegangen und unzureichend ausgestattet wird, schlägt der Trend zur Sonderschule zurück und teure und ineffektive Doppelstrukturen sind die Folge.
Mit den drei Slogans:
Selbstbestimmt Leben statt Heimversorgung!
Gleiche Rechte statt entmündigende Fürsorge!
Gemeinsame Bildung statt Sonderschule!
Kann man drei Schwerpunkte der Behindertenpolitik des Deutschen Behindertenrates (DBR) in den letzten Jahren umschreiben. Es ist uns gemeinsam mit den Paralmentariern und der Bundesregierung gelungen, mit einigen Kampagnen und legislativen Veränderungen, das Bewusstsein der Bevölkerung zu Fragen der Behindertenpolitik zu verändern. Dem ideologischen Vorsprung folgte aber nicht immer ein materielle Veränderung der Rechtslage und der realen Lebensbedingungen behinderter Menschen. Ich möchte daher kurz auf die Probleme, aber auch auf die noch ausgelassenen Chancen hinter diesen Slogans eingehen.
Selbstbestimmt Leben statt Heimversorgung!
So lange behinderte Menschen in 6-er-Zimmern in großen Anstalten außerhalb der Städte verwahrt wurden, war für jeden Bürger, der dieses mit eigenen Augen gesehen hatte klar, dass diese Zustände abgestellt werden müssen. Wenn heute in bevorzugten Wohnlagen kleine Einrichtungen für vier bis sechs Wohngruppen mit bis zu 8 Bewohnern pro Wohngruppe in schmucken Einzelzimmern, einer gemeinsamen Küche pro Wohngruppe und persönlicher Betreuung durch Sozialpädagogen errichtet werden, fällt es schwer zu begründen, warum eine selbstgewählte Wohnsituation zu bevorzugen ist. Auch stellt für viele junge Erwachsene der Einzug in eine solche Wohnstätte eine Befreiung aus der elterlichen Überbehütung dar und ermöglicht ihnen erstmals ohne Elternkontrolle eigene Kontakte aufzubauen.
Gleichzeitig können auch ambulante Dienste mit nur wenigen Stunden Hilfen an einem Tag die eigene Wohnung in ein ambulantes Heim verwandeln. Auch darf nicht vom Tisch gewischt werden, dass so mancher auch in seinem selbst gewählten Ghetto vereinsamt.
Die Sache ist also für einfache Parolen zu komplex.
Dennoch stellt das Recht, sich seinen eigenen Assistenten aussuchen, den Ort, den Ablauf und den Inhalt der Hilfen bestimmen zu können, eine Qualität dar, die in einem Dienstplan-bestimmten Versorgungskonzept nicht realisiert werden kann. Der Anspruch auf Persönliche Assistenz, die Gewährung als Persönliches Budget, gegebenenfalls mit Budgetassistenz, umfänglicher Beratung und ausgefeilter Zielvereinbarung, individuelelle Mobilitätshilfen und eine bedarfsgerecht zugeschnittene Eingliederungshilfe, können mit den gleichen finanziellen Mitteln behinderten Menschen ein Maß an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen, wie es kein Pauschalangebot vermag!
Daheim statt im Heim ist daher eine Kampagne, die diese Erfahrungen einerseits auf den Punkt bringt. Andererseits bedarf es aber einer gesetzlichen Untermauerung in einer Erweiterung und Konkretisierung der 'Sozialen Teilhabe’ im SGB IX, um den Flickenteppisch von unterschiedlichen Hilfen zu einem Anspruch zu verdichten. Dieses im neuen Jahr mit uns anzugehen, wäre ein großer Wunsch an Sie.
Gleiche Rechte statt entmündigende Fürsorge!
Als wir vor 5 Jahren das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) gemeinsam aus der Taufe gehoben haben, wussten wir, dass wir damit einen Meilenstein gesetzt haben. Uns war aber auch klar, dass dort einige Instrumente eingebaut waren, deren Wirkungsgrad wir nur schwer einschätzen konnten. Vieles war auf dem Kompromisswege entstanden, da niemand beurteilen konnte, welches Probleme mit der Herstellung der Barrierefreiheit und des Benachteiligungsverbotes verbunden sein können. Nun nach 5 Jahren ist es an der Zeit, zurück zu schauen und Bilanz zu ziehen. Das will ich heute nicht vorweg nehmen.
Aber ihre Bereitschaft mit uns zusammen die einzelnen Bereiche zu durchleuchten und Veränderungen vorzuschlagen, wäre uns sehr wichtig. Sie haben ja bereits eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die die Auswirkungen des neuen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes AGG auf die barrierefreie Nutzung des Bahnverkehrs untersuchen soll. Aber auch die Folgen der Förderalismusreform, die teilweise unzureichende Umsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen und des Rechtsschutzes in den Ländern, die offensichtliche Unwirksamkeit des Instrumentariums der Zielvereinbarung wegen fehlender Marktmacht und die fehlende Signalwirkung von Verbandsklagen wegen unklarer Anspruchsgrundlagen für die Barrierefreiheit, sind Fragen, denen wir uns widmen sollten. Eine Weiterentwicklung des Gleichstellungsrechtes mit Ihnen zusammen anzustoßen, wäre uns ein wichtiges Anliegen.
Gemeinsame Bildung statt Sonderschule!
Gefreut hat mich, ihr klares Engagement für eine inklusive Bildung. Während die Bundesländer aus Pisa teilweise gegensätzliche Schlussfolgerungen ziehen und mitunter gegensätzliche Konzepte verfolgen, scheint mir eine Tendenz in allen Bundesländern zu beobachten zu sein: Der Förderung der Begabten und die Bildung von Eliten steht im Vordergrund der Bildungspolitik der Länder.
Die zarten Ansätze integrativer Bildung werden zurückgefahren oder gar gänzlich kassiert. Teilweise geschieht dieses durchaus in Übereinstimmung mit einem Teil der Eltern behinderter Kinder. Bevor die sog. 'Integration’ in die Regelschule zur bloßen Verwahrung in einer zu großen Klasse, ohne die erforderliche Förderung, mit unzureichender Schulassistenz, bei schlechter apparativer Ausstattung und fehlender behindertenpädagogischer Förderung und Therapie verkommt, wird auf die personell und apparativ besser ausgestattete Sonderschule mit kleinen Klassen und qualifizierter Förderung zurückgegriffen.
Wie das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner 'Göttinger Entscheidung’ festgestellt hat, sind Doppelstrukturen von integrativer und sonderschulischer Bildung die teuerste Variante. Eine inklusive Bildung bedarf einer konsequenten Umgestaltung des Schulsystems, der Austattung mit den erforderlichen personellen, organisatorischen und sächlichen Hilfen, der stärkeren Einbeziehung der Eltern in den Entscheidungsprozess und einer Fortbildung der Lehrerschaft, damit sie behindete Schülerinnen und Schüler nicht als Sand im Getriebe, sondern als Bereicherung der Erfahrungswelt von Kindern und Erwachsenen erkennen.
Teamteaching, zieldifferenter Unterricht, Schulassistenz, Gebärdensprachdolmetscher, Unterrichtsmaterialien in Braille-Schrift usw. dürfen nicht nur viel bestaunte Utensilien eines Unterrichts in den anderen EU-Ländern bleiben. Deutschland muss zu den übrigen Mitgliedsstaaten aufschließen. Dabei müssen wir gemeinsam die Kleingeistigkeit länderbezogener Bildungskonzepte überwinden. Wenn der deutsche Förderalismus ein Hemmschuh sein kann, dann ist auf diesem Gebiet.
Wir möchten als DBR gerne mit Ihnen zusammen diesen Schwerpunkt in 2007 verfolgen. Dabei ist uns klar, dass dieses Thema nicht in einem Jahr wesentlich vorangetrieben werden kann. Aber, um einen Berg abzutragen, bedarf es des ersten Spatenstiches.
Sie haben auf unserem Visionen-Kongress das Zitat gebracht, dass derjenige der Visionen hat zum Arzt bzw. zum Psychiater gehen sollte. Ohne Visionen kann man aber keine Phantasie entwickeln. Und ohne Phantasie gibt es keinen Fortschritt.
Ich wünsche uns ein erfolgreiches neues Jahr in guter Zusammenarbeit mit Ihnen.
Vielen Dank!