Der Deutsche Behindertenrat und bezev - Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e. V. begrüßen die Dialogfassung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die wichtige Ansatzpunkte aus dem Globalen Nachhaltigkeitsbericht aufgreift, mit dem Ziel, die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 zu erreichen. Unter Beachtung der planetaren Grenzen soll die Strategie zu Gesellschaften mit mehr Gleichberechtigung und Integration sowie einem langfristig tragfähigen Wohlstand beitragen und niemanden zurücklassen.
Mit der Aufnahme von Transformationsbereichen greift die Dialogfassung die im Globalen Nachhaltigkeitsbericht benannten zentralen Herausforderungen auf. Es ist wichtig und richtig, die Herausforderungen im ökologischen und ökonomischen Bereich anzugehen, einen gleichen Stellenwert sollten aber auch die Herausforderungen im sozialen Bereich erhalten.
Die weltweite Zunahme der Ungleichheiten in den Lebensverhältnissen der Menschen wird im Globalen Nachhaltigkeitsbericht auch als eine der zentralen Herausforderungen benannt. Besonders betroffen sind davon benachteiligte und vulnerable Gruppen, zu denen auch Menschen mit Behinderung gehören. Sie sind weiterhin systemischen Benachteiligungen ausgesetzt, die sie aus dem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben ausschließen. Menschen mit Behinderung sind mit verschiedenen Formen der Ausgrenzung konfrontiert und haben im Allgemeinen geringere Bildungsabschlüsse, geringere wirtschaftliche Chancen, einen schlechteren Gesundheitszustand und leben häufiger in Armut im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung. Weltweit leben schätzungsweise 80 Prozent der Menschen mit Behinderung in Armut. Der Bericht kommt zu dem ernüchternden Fazit, dass dreizehn Jahre nach der Verabschiedung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2006 die Fortschritte bei seiner praktischen Umsetzung immer noch viel zu gering sind.
Daher betont die Abschlusserklärung des Nachhaltigkeitsgipfels die Notwendigkeit einer stärkeren Fokussierung auf benachteiligte Gruppen. Sie macht deutlich, dass die Ziele nicht erreicht werden können, wenn es nicht gelingt, auch die benachteiligten Gruppen zu erreichen.
Die Bundesregierung bekennt sich in der Dialogfassung zum zentralen in der Agenda 2030 verankerten Prinzip "Niemanden zurückzulassen" als gemeinschaftliche Verpflichtung, alle Menschen auf dem Weg zu nachhaltiger Entwicklung mitzunehmen. Das Prinzip in die Praxis umzusetzen und die ärmsten und am meisten benachteiligten Menschen als erstes zu erreichen, wird als zentrale Aufgabe für Regierungen und die internationale Zusammenarbeit gesehen. Dies wird unterstützt durch die formulierten "Prinzipien nachhaltiger Entwicklung". Als Leitprinzip, das in allen Bereichen und bei allen Entscheidungen anzuwenden ist, gilt, die natürlichen Lebensgrundlagen der Erde dauerhaft zu sichern und allen Menschen jetzt und in der Zukunft ein Leben in Würde zu ermöglichen. Das zweite Prinzip beinhaltet die Übernahme globaler Verantwortung und soll u. a. neben dem Schutz der Umwelt zur Bekämpfung der weltweiten Armut und zur umfassenden Teilhabe aller an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung sowie zur Gewährleistung der Menschenrechte beitragen. Neben weiteren Prinzipien zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, der nachhaltigen Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft widmet sich ein Prinzip der sozialen Entwicklung. Darin ist festgeschrieben, dass der soziale Zusammenhalt gestärkt und niemand zurückgelassen werden soll, alle Menschen sollen am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfassend und diskriminierungsfrei teilhaben können.
Während das Leitprinzip "Niemanden zurückzulassen" in den Prinzipien und den Ansprüchen der Dialogversion gut verankert ist, so fehlen doch die entsprechenden Maßnahmen, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Zudem finden sich diese nicht in den formulierten Zielen und Indikatoren wieder, die es zur Zeit nicht ermöglichen, festzustellen, ob tatsächlich alle Menschen erreicht werden bzw. wer (aufgrund welcher Faktoren der Diskriminierung) in den unterschiedlichen Bereichen zurückgelassen wird. In Bezug auf dieses Leitprinzip zeigt die Dialogversion deutliche Lücken auf.
Zur Schließung dieser Lücken werden die folgenden Maßnahmen empfohlen:
1. Deutschland besitzt eine international anerkannte Nachhaltigkeitsarchitektur und Nachhaltigkeits-Governance. Diese ist allerdings noch nicht dahingehend aufgestellt, benachteiligte Gruppen systematisch gemäß Absatz 74 g der Agenda 2030 zu erfassen. Die Indikatoren geben keinen Aufschluss darüber, ob auch benachteiligte Gruppen mit den formulierten Zielen erreicht werden. In den nationalen Indikatoren werden Menschen mit Behinderung kein einziges Mal erwähnt, obwohl sich innerhalb der 232 globalen Indikatoren elf Indikatoren befinden, die Menschen mit Behinderung benennen. Mit den nationalen Indikatoren trägt Deutschland zu den globalen Indikatoren bei und berichtet daher aufgrund der fehlenden Aufschlüsselung der Daten nicht zur Zielerreichung in Bezug auf Menschen mit Behinderung.
Um diese Lücke des fehlenden nationalen Monitorings zu schließen, sollte Folgendes geschehen:
a. In einem ersten Schritt sollten dort, wo Daten existieren, wie z. B. zu Indikator 4.1.a: "Frühe Schulabgänger (18- bis 24-jährige ohne Abschluss)"; 5.1.a: "Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern"; Indikator 8.5.a: "Erwerbstätigenquote insgesamt (20 bis 64 Jahre)" nach dem Merkmal "Menschen mit Behinderung" disaggregiert werden. Der Indikator 17.1 "Anteil öffentlicher Entwicklungsausgaben am Bruttonationaleinkommen" sollte nach Einführung des OECD-DAC Policy Markers zu Inklusion ebenfalls disaggregierte Daten bereitstellen.
b. Da die Datenlage der Nachhaltigkeitsziele in Bezug auf Menschen mit Behinderung noch unzureichend ist, sollte die Nachhaltigkeitsarchitektur durch ein Gremium (z. B. eine Kommission) ergänzt werden, das dazu beiträgt, die Datenlücken zu schließen (die UN-Statistikkommission hat dafür eine Arbeitsgruppe eingerichtet), so dass die Indikatoren der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie systematisch und durch international vergleichbare Daten ergänzt werden. Dieses Gremium sollte sich aus den Statistischen Ämtern der Bundesrepublik Deutschland (nationale und Länderebene), Verwaltung, Wissenschaft, Menschenrechtsinstitution und Zivilgesellschaft zusammensetzen. Dieses Gremium könnte sich an den Menschenrechtsindikatoren des OHCHR orientieren, das diese zum Monitoring der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) entwickelt hat. Da zwischen den Nachhaltigkeitszielen und den Rechten von Menschen mit Behinderung aus der UN-BRK vielfältige Überschneidungen bestehen, bieten sich diese Indikatoren als vorteilhaft an, da sie für das Monitoring von beiden internationalen Übereinkommen genutzt werden können.
Der Arbeitsauftrag für das einzurichtende Gremium könnte breit angelegt werden, so dass neben Menschen mit Behinderung auch Daten zu anderen Gruppen, die national benachteiligt werden, aufgeschlüsselt erfasst werden können.
c. Der Staatssekretärsausschuss ist unter der Leitung des Chefs des Bundeskanzleramts das zentrale Steuerungsorgan der Nachhaltigkeitsstrategie. In der begleitenden Dialoggruppe, die sich aus Organisationen/Institutionen aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zusammensetzt, sind bislang benachteiligte Gruppen nicht vertreten. Bei der kommenden Neubesetzung der Dialoggruppe sollte deshalb darauf geachtet werden, dass zumindest eine Organisation aus diesem Bereich vertreten sein wird.
2. In der Dialogversion der Nachhaltigkeitsstrategie sind keine konkreten Maßnahmen enthalten, die die bestehenden Benachteiligungen abbauen, so dass nicht ersichtlich wird, wie die am meisten Benachteiligten zuerst erreicht werden können.
a. Auch in Deutschland sehen sich Menschen mit Behinderung noch systemischen Benachteiligungen ausgesetzt. Dies betrifft insbesondere das Bildungssystem, Beschäftigung und Arbeit, Gesundheit und eine barrierefreie Infrastruktur. Unter Berücksichtigung der Abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses über den ersten Staatenbericht Deutschlands sollten konkrete Maßnahmen zur Überwindung der Benachteiligungen in die Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen werden. So könnte z. B. ergänzt werden, dass Mobilität und Bauen in Deutschland nicht nur nachhaltig, sondern grundsätzlich auch barrierefrei erfolgen soll. Für das Bildungsziel (SDG 4) sollte eine Strategie mit einem Zeitplan, Zielen und Indikatoren aufgenommen werden, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen inklusiven Bildungssystem zu schaffen.
b. Länder und Kommunen spielen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Ziele, da 65 der 169 Unterziele nur auf lokaler Ebene umgesetzt werden können. Die meisten deutschen Bundesländer haben bereits eigene Nachhaltigkeitsstrategien erarbeitet; auch immer mehr Kommunen erarbeiten eigene Nachhaltigkeitsstrategien. Gleichzeitig existieren auf Länder- und kommunaler Ebene Strategien zur Umsetzung der UN-BRK und meist verläuft die Umsetzung dieser beiden internationalen Abkommen in parallelen "Silos". Die Aufforderung zu einer stärkeren Verzahnung dieser beiden Stränge sollte in die Nachhaltigkeitsstrategie aufgrund ihrer Vorbildfunktion aufgenommen werden, da durch eine bessere Zusammenarbeit Synergien und ein großes Potenzial zur Umsetzung der beiden Vereinbarungen geschaffen werden können.
c. Auch auf Länder- und kommunaler Ebene sollten die Nachhaltigkeitsstrategien Menschen mit Behinderung in ihren Zielen und Indikatoren berücksichtigen. Dies geschieht zum Teil schon, ist aber noch deutlich weiter ausbaufähig.
d. Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit sollte die Inklusionsstrategie von Menschen mit Behinderung verbindlich, mit einer Steuerungsstruktur versehen, nachvollziehbar und mit ausreichenden finanziellen Mitteln umgesetzt werden.
Die Agenda 2030 ist nicht ohne eine effektive Berücksichtigung benachteiligter Gruppen umzusetzen. Wir möchten mit unseren Vorschlägen dazu beitragen, die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie entsprechend weiterzuentwickeln und stehen für einen Austausch bezüglich der Umsetzung unserer Vorschläge gerne zur Verfügung.